Timuçin Balçin: Ergänzungen zum Vortrag vom 21.8.2024
Eine musikalische Ergänzung anhand des deutschsprachigen HipHops der Neunziger und frühen Nullerjahre
Während mein Vortrag die Kamera auf die geschichtlichen, sozialen Umstände der South Bronx, dem Geburtsort der HipHop-Kultur, der sechziger bis in die späten siebziger Jahre richtet und den Einfluss der US-amerikanischen Militärkultur während und nach dem Vietnamkrieg auf die zwischen brennenden Gebäude und grenzenlos erscheinenden Ganggewalt lebende stigmatisierte, marginalisierte Unterschicht sichtbar macht, geht dieser ergänzende Artikel, samt musikalischer Untermalung, auf die frühen einflussreichen Schritte im deutschsprachigen Raum ein – von den rückblickend tapsig wirkenden kleinen bis hin zu den heute noch spürbar großen.
Der Wettkampf im HipHop scheint allgegenwärtig und zeigt seine volle Pracht vor allem in der Battlekultur – von Disstracks über Freestylecyphers, den B-Boy und B-Girl – Circles, den Graffiti-Rivalitäten an den Yards und in der Stadt und nicht zu guter Letzt an den „Wheels of Steel“ – den Plattenspielern. Ebenso sind es die zahlreichen Lobeshymnen über Geld, Macht und Ruhm im Rap, die nicht selten ihren Weg an die Spitze der Charts erklimmen.
Mit einem sensiblen und unausweichlich nostalgischen Blick jedoch möchte ich den Gegenentwurf einer noch sehr jungen HipHop-Kultur im deutschsprachigen Raum in den Vordergrund stellen, der abseits der „höher, schneller, weiter“ – Mentalität auf kreative und experimentierfreudige Art zu existieren wusste und eine andere Form des Wettkampfes gefochten hat: den emanzipatorischen durch kreatives Schaffen, Vernetzen und Reisen. Und das innerhalb einer Gesellschaft, die durch die Kultur des Leistungsdrucks geprägt war, zusammengefasst keine Schwäche zeigen, lernen zu funktionieren und sich unkritisch anpassen.
Aus sich ausbrechen, mit der gesellschaftlichen Norm brechen, die Brüche im Leben in die Musik, den Tanz und die Kunst integrieren, aufbrechen und auf der Reise auf Verbündete stoßen und dem Ausbruch Ausdruck verleihen.
Und an dieser Stelle lasse ich die Musik für sich sprechen und nehme euch mit auf eine Zeitreise.
Advanced Chemistry – Operation Artikel 3 (1994 / Heidelberg)
„So falle in keinem Falle in die Falle und falle
Nicht jenen in den Rücken die sie heute unterdrücken
Sonst schaffen wir dem herrschenden Rassist die Basis
Was für dich und mich kein Spaß ist
Denn ob im Betrieb als Kollege oder Kollegin
Sitzen wir hier im gleichen Boot drin
Türke, Eritreer, Vietnamesin, Kurdin
Chilene, Slowene, Sinto oder Jüdin
Inder, Marokaner, Schwarze, Deutsche, Togolesin
Im Kampf gegen das hier wütende Unwesen
Und hast du auf der Straße einen der Deinen erkannt
Schenk ihm ein Lächeln und gib ihm im reinen die Hand“
Konkret Finn – Bin nemmer der Tschab der ich ma war (ca. 1994 / Frankfurt am Main)
„Ich weiß nicht warum mir in letzter Zeit nichts gelingt
und mein Selbstvertrauen von Tag zu Tag sinkt
Ich kann es mir selber net erklären
aber manchmal habe ich das Gefühl alles was ich anpacke wird zu Kacke
Und ich gehe mir selber so auf den Sack
das ich vor Wut einen Dicken krieg wenn ich mich im Spiegel seh
Ich weiß nicht wieso
Aber jeder Versuch mich locker zu machen endet mit einem tiefen Griff ins Klo
Nichts klappt, nichts geht
Ich bin Finn aber Konkret
(…) weiß nicht was ich machen soll
Meinen Jungs gehe ich ständig auf den Sack
Weil ich denk, dass sie mich dissen wollen obwohl ich sie abfuck“
Massive Töne – Nichtsnutz (1996 / Stuttgart)
„Die Debatten mit dem Vater, die ich führte
Über die Zukunft, man zwang mich zur Vernunft, doch was ich fühlte oder spürte
Blieb tief in mir verborgen ich machte mir selbst Sorgen
Darüber, wie mein Leben verlief
Ich war das Problemkind, das dauernd die Schule verschlief
Schlecht im Beruf, verrufen im Betrieb und frech zum Chef
Das zu oft weglief und seine Eltern anlog
Und langsam merkte, dass die Zeit an ihm vorbeizog“
Cora E – Schlüsselkind (1996 / Heidelberg)
„Ich lebte vor mich hin, kaum was machte Sinn, und dachte nicht im Traum darüber nach, womit ich meine Zeit verbrachte
Was kennt man vom Leben, wenn man Leute Freunde nennt, die ihren Joint an Kinder weitergeben?
Ich bin geflogen von den Schulen der Stadt
Meine Mutter schleppte mich zum Psychologen, doch der hat
Wenig Chance, weil seine Mühen so gut wie umsonst sind
An einem Kind, das denkt, dass alles stimmt
Ich ertrank fast, sank, doch hatte Glück:
Die Welle aus Amerika spülte mich wieder ans Land zurück!
Ich begann zu leben, wurd‘ aktiv
Und hab zum ersten Mal geträumt ohne dass ich schlief“
Fast Forward – Verloren (1996 / Köln)
„Geboren und schon verloren
Ich sehe uns noch damals vor’n paar Jahren
Als wir noch kleine Kiddies waren
Ich hab mir selbst gesagt, das Leben ist kein Akt
Hab hingehört, was mein Alter mir erklärt
Und befolgt, was er gewollt hat
Geduld gehabt und Selbstvertrauen
Hey, alle herschauen, was ich kann und ich weiß genau
Irgendwann macht sich das alles bezahlt, wenn ich nur durchhalt“
Der Lange & DJ Funky Chris – The Real Deal (1996 / Dortmund)
„Scheißegal, einfach drauf los
Meinen ersten Wholecar malte ich in Soest
Bin nicht fertig geworden, war auch gar nicht schlimm
Das Gefühl wunderschön ich war mitten drin
Genau an diesem Tag kam die Wende im meinem Leben
Ich fuhr in jede Stadt versuchte alles zu geben
100% ich gab mein letztes Hemd
Ich war der Dose treu, ging Graffiti niemals fremd
Es ist kein Trend für mich, lass dir das sagen
Willst du Writer sein, muss du Risiken wagen“
Too Strong feat. RAG – Einzelkämpfer (1999 / Dortmund & Bochum)
„Denk nicht gern zurück an mein elftes Lebensjahr
Denn meine Mutter starb und wir standen allein da
Ihre Krankheit, meine Kindheit, meine Jugend
Diese Situation formte mich und meine Tugend
Zog mich zurück in der Schule wurd zum Streber
Lernte schnell Verantwortung für mich und meine Schwester
Stand morgens früh auf, ging schlafen als Lezter
Kein Babysitter der da war, wenn was nicht klar war
Stellten sich fragen fand ich die Antwort selbst heraus
Denn mein Vater kloppte stunden, kam erst später nach haus
Er wär gern bei uns gewesen in diesen stunden
Doch der Tod meiner Mutter war wie Salz in den wunden
Er brachte uns durch und so sind Jahre vergangen
Mein Vater war alleine, das habe ich damals nie verstanden
Dank, liebe, Erkenntnis bringt die zeit
Denn wenn ein Vater sich aufgibt kommen die Kinder nicht weit“
Profan 78 & Roey Marquis II – Spiritual Combat (2000 / Dortmund)
„Es wird kalt hier müde Augenlider filtern persönliche Sicht
Ich schließ‘ mein Parker und zieh‘ meine Kapuze ins Gesicht
Regen und Sturmböen markier’n das Gebiet
Sunnyboys erfrier’n weil der Sommer vom Winter flieht
Der verlorene Gewinner tigert nervöse Kilometer durch sein Zimmer
Meine Eltern mein‘ ich bau‘ mein Schloss auf Treibsand
Also bleib‘ ich allein und stampf mit dickem Fell durch’s Eisland
Es gibt zur Zeit nur wenige, die mich bestätigen
Weil ich rede wie die meisten und denke wie die wenigsten
Wenn meine Vertrauenspole schmilzen
Mich als große Verarschungen überfluten
Zerschieß‘ ich Lügen bis sie Wahrheit‘ bluten
Junge schlägt durch Stränge, wie mein Vater seine Kollegen“
Chabs – Kern der Wunden (2001 / Frankfurt am Main)
„Fieser Tag und ich lag in meinem Bett
dachte nach und zerbrach mir den Head
die Krisen hart und ich war defekt
deep in mir war es habe ich dann entdeckt
Frust kam auf, dicke Luft im Haus
trieb mich raus, ich kiffte mein Atem weg
miese Qualen, dieses Mal liegst wieder schief da
auf dem falschen Weg“
Fiva MC & DJ Radrum – Blaue Flecken (2002 / München)
„Du bist geboren in ner Zeit als alles kaputt war
Mit dem Herz deiner Mutter dass nur Asche und Schutt sah
Dein erster Geburtstag das ende des Blutbads
Die wende die gut tat da die menge genug hat
Hast gelebt zwischen Neubau und zertrümmerten Seelen
Die sich innerlich quälen da Erklärungen fehlen
Sprechen? mit wem? der schock saß zu tief
Man verlor einen krieg ohne wahres Motiv
Du hast gesehen wie dein Vater starb wegen seiner Krankheit
Der Stern verbot Vaterstaat ihn früher zu pflegen
Gabst dir mühe – weswegen? schule für Mädchen zur zehnten
Danach Arbeit an Theken anstatt tanzen auf Feten
Du hast mir gezeigt dass man durchhalten kann
In einer zeit als dein Mann nicht mehr arbeiten kann
Drei Kinder im wagen die Ansprüche haben
Alles dankbar ertragen doch Jahre nichts sagen“
Total Chaos – Generation Copy Paste (2002 Innsbruck / Österreich)
„Alle träumten vom Gewinn obwohl das Business hart ist
machte man die Rechnung nicht mit dem Gesetz des alten Marktes
Und das sagt: Du kannst nur was verdienen, wenn du was verkaufst
Was willst du verkaufen, wenn du hast was keiner braucht?“